SIE KANN SICH EINFACH NICHT ENTSCHEIDEN*
*Das Gute daran ist: Von dieser Unentschlossenheit wird die Autorin Juli Zeh getrieben. Wie sonst sind drei Uniabschlüsse, eine amtliche Essaypreissammlung und nun ein Debütroman zu erklären?
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Sommer 1993. Ein Campingplatz irgendwo im Süden Japans. Zwei
junge Europäerinnen schlagen ihr Zelt auf. Der Platz ist wie ausgestorben. Und
der Taxifahrer gerade ist mit quietschenden Reifen wieder abgefahren. Warum
wohl der Sprecher im Radio eben diese eine Durchsage ständig wiederholt hat?
Doch weil die Reisenden kein Japanisch können, jung sind und die Welt nur
kommen soll, denken sie sich nichts dabei. Windig hier draußen. Man könnte
sogar von Sturm sprechen. Die zwei packen – vorsichtshalber - ihre Pässe in die
Hosentaschen, wichtige Sachen in die Rucksäcke und die Rucksäcke auf den Rücken.
Wenig später klammern sie sich an einen Baum. Der Taifun, vor dem der Radiosprecher
gewarnt hatte, schnappt sich das Zelt. Die Frauen beten. Acht Stunden lang.
Sommer 2001. Es
war warm in Leipzig in den letzten Tagen. In Juli Zehs riesiger Altbau-Küche
segeln dicke schwarze Flocken durch die Luft. Vorbei am Lemonbabies-„Porn“-Plakat und dem Tisch mit einem Durcheinander aus Kerzen, Tabak, Zeitungen, Reiseführern über Kroatien und der Erstfassung von
Julis soeben erschienenem Debütroman Adler und Engel. Juli hockt in Jeans und T-Shirt barfuß auf dem Fußboden.
In der einen Hand hält sie eine Kaffeetasse, die sie mit einer selbst gedrehten
Zigarette abwechselt, in der anderen eine Schermaschine. Hund Othello, acht,
eine Mixtur aus Riesenschnauzer und Unschuldslamm, bekommt seine Sommerfrisur. „Wenn
ich mit ihm fertig bin“ sagt sie, „sieht er aus wie ein Zierfisch. Vorn und
hinten Wuschel, in der Mitte nichts.“ Im Moment wirkt er allerdings eher wie
ein schwarzer Flokati, der zur Hälfte einem Rasenmäher zum Opfer gefallen ist.
Während Juli
also schert und trinkt und raucht, alles gleichzeitig, erzählt sie. Von Japan,
damals, kurz nach dem Abi. „Klingt richtig lustig heute, oder?“ Ihre selbst
gestaltete Frisur - irgendwo zwischen Prinz Eisenherz und Charlotte Roche - umkränzt dekorativ ein breites
Grinsen. Dann nimmt Juli einen tiefen Zug aus ihrer Zigarette und ihre blauen
Augen werden ganz schmal und grinsen mit. „Aber damals, als wir an diesem Baum
hingen, haben wir gedacht: Das war’s.“ Sich selbst in Situationen zu bringen,
die neu sind und aufregend, dabei ab und zu auch mal lebensgefährlich, darin
ist Juli Zeh perfekt. Herausforderungen sind dazu da, dass man sie annimmt.
Wird schon gut gehen.
Juli Zeh
ist, seit dem 30. Juni – ausgerechnet Juni - 27 Jahre alt. Sie hat in ihrem Leben bis jetzt eine Menge
Herausforderungen angenommen. Meistens ein paar gleichzeitig. Darum hat sie in
einem Alter, in dem andere Leute vielleicht gerade mal ihr Erststudium beenden,
drei Uniabschlüsse in der Tasche. Der Reihe nach: Das beste Staatsexamen
Sachsens in Jura. Ein Diplom in Literarischem Schreiben am Deutschen
Literaturinstitut Leipzig – wegen des Instituts ist die Bonnerin auch vor sechs
Jahren nach Leipzig gekommen. Und dazu noch einen Magister in einem
Aufbaustudiengang zu Internationalem Recht. Als wäre das nicht schon mehr als
andere in fünfzig Jahren erreichen, sammelt sie nebenbei Essaypreise wie andere
Robbie-Williams-CDs. Und dann ist da natürlich der Roman. „Ich kann mich
schlecht entscheiden,“ sagt sie lapidar dazu „und dann mache ich alles auf
einmal."
Was ich mich immer gefragt habe, sagt Clara bei Nürnberg,
ist, wie man dazu kommt, sich für ein Jurastudium zu entscheiden. (...) Ich bin
kein typisches Beispiel, sage ich. Ich habe mir einfach das Studium ausgesucht,
das ich mir am wenigsten zutraute.
Jura jedenfalls
hat Juli schon immer interessiert. Ihr Vater, selber Jurist, arbeitet in Berlin
am Bundestag. Und, wer weiß, vielleicht
hat sein Versuch, der Tochter das Studium auszureden, für die den
Ausschlag zum Anfangen gegeben. Die meint allerdings: „Er wollte nur testen, ob
ich wirklich will.“ Ob sie wirklich schreiben will, musste niemand testen. So
etwas steht auch für Eltern außer Frage, wenn die Tochter die ersten
Erzählungen mit zwölf fertig hat.
Das letzte Wort
zu Adler und Engel hat Juli vor etwa
einem Jahr geschrieben. Adler und Engel ist eine Geschichte um den Ich-Erzähler Max. Max ist – wen wundert’s –
Anwalt. Er wird am Telefon Zeuge des Selbstmordes seiner Freundin. Er
resigniert, beschließt, auf sein Ende zu warten, das er mittels Drogenkonsum
beschleunigen will. Doch die Radiomoderatorin Clara, in deren Sendung er
angerufen hat, entführt ihn von Leipzig nach Wien, wo er früher gelebt hat.
Clara zwingt ihn, seine Vergangenheit aufzurollen. Nach und nach stellt sich
heraus, dass Max‘ Leben und seine Liebe zutiefst verstrickt sind mit den
Kriegen in Bosnien, politischen Entscheidungen und einer internationalen
Drogenbande. Schriftsteller Burkhard Spinnen war Julis Lektor und bescheinigt
ihr im Klappentext ein „furioses“ Debüt. Sicher ist: Die Geschichte ist
fesselnd und phantastisch geschrieben. So eindringlich, dass man beim Lesen zu
Schwitzen beginnt, weil es im Buch ständig wahnsinnig heiß ist.
Wir prallten
gegen die Hitze wie gegen einen unsichtbaren Abwehrschirm. Die Stadt wollte
nicht betreten werden. (...)Die Stille war absurd für das Zentrum einer
Großstadt, wie auf freiem Feld, nur ohne Grillen.
Othello ist
fertig frisiert. Lag er eben noch reglos wie ein müder Käfer auf dem Rücken,
rast er jetzt wie ein wild gewordener Staubsauger kreuz und quer durch die
Küche und reibt sich am rauen Teppichboden, einem grauen Relikt aus DDR-Zeiten.
Der Juckreiz nach der Rasur ist der Preis für ein heißes Leben an der Seite
seines Frauchens. Das verbringt den Sommer mit Vorliebe in Städten, die dafür
bekannt sind, dass sich die Straßen dort zwischen Juni und September in
gigantische Grills verwandeln. Wien etwa, lange Zeit Julis erklärter
Lieblingsfleck auf dieser Erde. Dort hat sie in Kaffeehäusern gekellnert. Und
natürlich geschrieben. In New York hat sie später ein Praktikum bei der UNO
gemacht . Ein Vierteljahr lebte sie darum in dieser Stadt, die viele für die
aufregendste der Welt halten. Frau Zeh blieb unbeeindruckt: „Nach einer Woche
habe ich mich gelangweilt.“ Dafür nutzte
sie ihre intimen Kenntnisse für den Roman: „Ich habe die New Yorker UNO
nach Wien transportiert.“ Ein Teil der Handlung spielt in der Wiener UNO-City.
Juli: „Und da war ich noch nie drin.“
Ich fuhr mit der U-Bahn in den Zweiundzwanzigsten Bezirk
und rannte eine halbe Stunde lang über die dicken Teppichböden auf den
Korridoren von Block B, (...)
Viel
interessanter als die Welt westlich des Atlantiks findet Juli alles im Osten.
„Mein Ostfieber“ nennt sie das. Ihren Roman hat sie in Krakau vollendet. Dort
war sie für ein Jura-Auslandssemester
hingegangen. Selbstverständlich ohne ein Wort Polnisch zu sprechen.
Sonst wäre das mit der Herausforderung ja nichts geworden. Als sie beim
Vermieter ihres Zimmers vorstellig wurde, machte der sie zwischen Tür und Angel
mit seinem Sohn bekannt. „Eine merkwürdige Szene. Wir haben uns umständlich im
Treppenhaus über das Geländer hinweg die Hand gegeben.“ So fangen in Romanen
Liebesgeschichten an. Oder im Leben von Romanschriftstellerinnen. Woitek, so
der Name des Herrn, taucht fortan immer wieder in Julis Domizil auf. Und weil
der junge Mann neben seinem Job als Produktionsmanager für Film und TV auch
noch fotografiert – das Autorenfoto hinten auf dem Roman stammt von ihm – ist
Juli bald in der Lage auf polnisch über die Lichtverhältnisse auf einem Foto zu
reden. „Aber in der Bäckerei stand ich da und konnte keine Brötchen bestellen.“
Für Woitek wirft sie ihre
siebenjährige Beziehung „in Sekunden“ über Bord. Und bleibt nach Semesterende
einfach länger in Krakau. Weil da die Liebe hingefallen ist. Die größte
Herausforderung vielleicht.
Max, sagte er, liebe sie. Lass sie nie etwas anderes
spüren. Zu Herbert und mir wird sie nicht zurückkommen.
Wenn man Juli
Zeh etwas erzählt, kann es sein, dass sie plötzlich einen Notizblock zückt und
sagt: „Moment, muss ich aufschreiben.“ Solche Notizen verarbeitet sie später in
ihren Texten. Und wenn man ihr – zum Beispiel - von einer heimlichen
Liebschaft erzählt und sie dann
bittet, das nicht zu verwenden? Sie feixt: „Dann sollte man es lieber nicht
erzählen.“ Genau darum lesen sich ihre Szenen so authentisch. Und Authentizität
ist Juli wichtig. Im Roman kommen fast ausschließlich reale Orte vor. Selbst
eine Shell-Tankstelle an der Protagonist
Max nachts ein Eis kauft. Die liegt gleich um die Ecke von Julis früherer
Wohnung. Direkt neben monströsen Fernwärmerohren, über deren Krümmungen er
einmal nachgrübelt. Auch das in
den Holzfußboden gesägte Loch, in dem Juli als Kind Manuskripte vor ihrer sehr
interessierten Mutter – einer Übersetzerin - versteckt hat, taucht auf. Dazu
eine Handvoll Ereignisse, die irgendwer irgendwann mal erlebt hat, ein Schuss
Insider-Wissen aus dem Jura-Milieu und eine Prise Charakterzüge echter
Personen. Alles angerichtet mit
Phantasie.
Die Straßenbahnen winden sich, von innen erleuchtet,
zwischen den Häuserreihen hindurch. Vielleicht habe ich geschlafen, bäuchlings
auf der Fensterbank.
Für die nächste
Zeit hat Juli Zeh schon mal ein paar Herausforderungen zusammengetragen. Eine
Promotion ist angedacht: „Die Magisterarbeit ließe sich vielleicht ausweiten
dazu.“ Ihr nächster Roman auch: „Eine Geschichte über dieses Phänomen meiner Generation,
in der zurzeit alle ständig reisen. Ich habe Freunde in Prag, Amsterdam,
Barcelona, Wien...“ Dann noch ein literarischer Reiseführer über den Balkan.
Dort war sie zu Recherchen gerade unterwegs: „Das gibt’s nämlich noch nicht, so
was.“ Aber erst mal muss sie nach Breslau, wo Woitek inzwischen des Berufs
wegen hingezogen ist. Danach nach Warschau wegen einer Buchmesse. Dazwischen
noch nach München. Dann steht das Jura-Referendariat an. Und die Freunde wollen
auch besucht sein. Wer Juli Zeh kennt, weiß: Sie wird sich nicht für eins dieser Dinge entscheiden.
Sondern für alle.
Wir nehmen
die Straßenbahn. Ich kaufe Fahrscheine für uns und den Hund, obwohl Clara sich
halb totlacht darüber. Schwarzfahren überstieg schon immer meine Nervenkraft.
Sommer 2001.
Der wunderbare Satz „Zum Halten bitte Fahrgastwunsch betätigen“ steht
von innen über der Tür der Leipziger Straßenbahn. Von außen versprach
die Beschriftung „Ticket-Automat
im Wagen“. Eine junge Frau steht nervös mit einem großen Hund, der wie ein
Zierfisch aussieht – vorn und hinten Wuschel, in der Mitte nichts –vor dem
Automaten im Wagen, der nur Geldkarten nimmt. Sie hat keine Geldkarte, wer hat
so was schon? Und Schwarzfahren ist nun wirklich die einzige Herausforderung,
die sie nicht gerne annimmt.